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Alte und neue Rituale

Mit dem gestrigen Abend  fing für uns Weihnachten an. Seit vielen Jahren ist es Tradition in unserer Familie am 23. Dezember zu „The Sound of Christmas“  ins Theater 82er Haus nach Gablitz zu fahren. Seit 21 Jahren werden dort von jeweils zwei Frauen und zwei Männern, alle mit Musicalausbildung und Erfahrung von namhaften Bühnen der Welt, Weihnachtslieder und –geschichten aufgeführt.

Wer bis dahin noch nicht in Weihnachtsstimmung war, ist es dann mit Garantie. Wir haben diese Tradition vor  vielen Jahren begonnen, mit Familie, teils auch mit FreundInnen. Familienmitglieder sind von uns gegangen, Freundschaften haben sich verändert, was immer geblieben ist, ist diese lieb gewonnene Tradition. Durch das viele Jahre gemeinsam Erlebte, sind an diesem Abend im Geiste auch alle mit dabei, die es heute nicht mehr sein können.

Was ist IHRE Weihnachtstradition?

Wie sieht es überhaupt mit Traditionen und Ritualen in Ihrem Leben, in Ihrer Familie aus? Alle Familien haben Rituale, oft sind sie ihnen nicht einmal bewusst.

Und kennen Sie auch die Geschichten drumherum, die Wurzeln dazu?

Sie wissen schon was ich meine. Bestimmt kennen Sie die Geschichte dazu, vom Braten mit den abgeschnittenen Enden. Nein? Also für die, die sie noch nicht kennen: Immer wenn es Braten gibt, schneidet die Mutter an beiden Enden ein Stück ab. Die kleine Tochter, die ihr in der Küche zusieht, fragt, warum sie das macht und die Antwort ist: „Das hat schon meine Mama so gemacht.“ Also fragt die Kleine beim nächsten Besuch: „Du Oma, die Mama sagt, sie hat das von dir, dass sie beim Braten immer beide Enden abschneidet, warum machst du das?“ Und die Oma meinte, „Weil das schon meine Mama so gemacht hat!“ Die Kleine ist hartnäckig, wie Kinder so sind und hat das Glück, dass ihre Uroma noch lebt und zum Weihnachtsfest kommt. Auch diese wird gelöchert: „Du, Urli, du kochst ja nicht mehr selbst, aber die Mama und die Oma sagen, du hast beim Braten früher  immer die Enden abgeschnitten. Warum?“ „Ja weißt,“ sagt die Urli-Oma, „das ist ganz einfach, meine Süße, er hätte sonst nicht in unsere Bratenpfanne gepasst!“

Tja, manche Traditionen sollte man hinterfragen! J

Rituale sind so alt wie die Menschheit selbst.  Sie waren Grundlage für die Entwicklung der Kultur, der Sprache, der Religion.

Rituale ziehen sich durch alle Bereiche unseres Lebens, durch den Alltag genauso wie durch besondere Ereignisse.

Geburt und Tod, Hochzeiten, Geburtstage, Umzüge, bestandene Prüfungen, Beförderungen, Jubiläen, Begrüßungen, Abschiede, kirchliche Feste auf der einen, das morgendliche Aufstehen, gemeinsame Mahlzeiten, Einschlafrituale, etc auf der anderen Seite.

Rituale haben auch in Krisenzeiten, d. h. in Zeiten von Veränderungen, eine große Bedeutung. Oft finden wir Rituale, wenn Menschen sich auf etwas Neues einstellen mussten, was natürlich mit Ängsten verbunden war. Im Ritual konnten sich Menschen von ihren Ängsten befreien, die sie sonst gelähmt hätten wichtige Schritte zu unternehmen.

Kleinkinder bekommen durch Rituale erste Strukturen im Tagesablauf vermittelt, was ihnen hilft sich besser zu orientieren und ihrer Umgebung zu vertrauen, was ihr Urvertrauen stärkt. (Gerade auf Ferienlagern ist ein geregelter Tagesablauf eine gute Orientierungshilfe, weg vom vertrauten Zuhause der Eltern „in der Fremde“: gleiche Weckzeit, fixe Mittagspausen, Schlafensgehrituale, Anfangs- u. Tagesabschlusskreis etc.) Rituale sind leicht erkenn-, erinner- und wiederholbar.

Rituale sind Brücken zu tieferen seelischen Schichten. Über diese Brücken können dem Bewusstsein positive Kräfte zugeführt werden, damit das Leben weitergehen kann.

In einer Zeit zunehmender Unsicherheit und zahlreicher Veränderungen wächst das Bedürfnis nach Gemeinsamkeiten, Stabilität, Sicherheit, Ordnung, Struktur, Verlässlichkeit, Zugehörigkeit und Sinnfindung.

In jeder Gruppe finden wir Menschen mit unterschiedlichem Wissenstand und Fähigkeiten, aus verschiedenen sozialen Umfeldern, mit unterschiedlichen Erfahrungen und Zielen. Im Ritual werden all diese Unterschiede aufgehoben. Deshalb betonen Rituale die Homogenität der Gruppe, die Gleichberechtigung und Gleichheit der Gruppenmitglieder. Sie relativieren auch zwischen männlichen und weiblichen Rollen.

Ritualisierungen sollen Aggressionen beschwichtigen und die Verbindung zwischen Menschen herstellen. Rituale integrieren den einzelnen in die Gruppe. Wir finden sie überall dort, wo Altes auf Neues, Bekanntes auf Unbekanntes trifft, wo Dinge sich ändern, Grenzen berührt oder überschritten werden. Wer ein Ritual vollzieht, überschreitet die konkrete Zeit und den konkreten Ort. Er folgt dem, was Angehörige seiner Gruppe an anderen Orten und zu anderen Zeiten schon getan haben bzw. noch tun und voraussichtlich tun werden (z. B. Ablauf der religiösen Trauungszeremonie; Handauflegen in der christlichen Tradition als Segen, ...)

Rituale strukturieren den Tagesablauf, den Wochenrhythmus und das Jahr. Kinder gewinnen anhand dieser ritualisierten Handlungen Sicherheit und lernen sich zurechtzufinden, ihren Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Bei älteren Menschen, deren Lebenstempo langsamer wird, kommt es leicht zu einer Diskrepanz zwischen dem Innenleben und der Umwelt. Diese Veränderung macht ihnen Angst und daher brauchen sie Rituale, die die notwendige Struktur geben: immer das gleiche Frühstück zur gleichen Zeit, den Mittagsschlaf zur gleichen Zeit, den Gottesdienstbesuch am Sonntag etc.

Es würde viel Energie kosten jeden Morgen nachzudenken, in welcher Reihenfolge der Tag am besten begonnen wird, deshalb ist er bei den meisten Menschen rituell gestaltet. Werden wir darin gestört, weil Besuch da ist oder wir auf Reisen sind, bringt das oft Beeinträchtigungen mit sich.

Neue Situationen für die wir keine Rituale zur Verfügung haben, können uns leicht irritieren. In Familien oder Kulturen, deren Bräuche wir nicht kennen, fühlen wir uns leicht verunsichert.

Die symbolhafte Bedeutung, die über das konkrete Handeln hinausgeht, ist das wesentlichste Merkmal eines jeden Rituals. Bei der gemeinsamen Mahlzeit geht es nicht nur ums Essen und der gemeinsame Abendspaziergang dient nicht nur der Bewegung.

In vielen Ritualen werden Gegensätze zusammengebracht und so eine Form von Ganzheit ausgedrückt. Eltern, die bei der Geburt ihres Kindes einen Baum pflanzen, wünschen ihrem Kind damit eine glückliche und gute Entwicklung, lebendiges Wachstum und Fruchtbarkeit. Einerseits setzen sie aktiv ein Zeichen in die Welt, andererseits vertrauen sie es aber zugleich etwas Übergeordnetem, der Natur, an.

Rituale wirken durch die Handlungen. Etwas spielt sich nicht nur in unserem Kopf und Herzen ab, sondern wir tun etwas!

In diesem Sinne haben Sie Freude beim Hinterfragen Ihrer Weihnachtstraditionen und –rituale, kreieren Sie mit viel Begeisterung neue und haben Sie  einen Abend voller Wunder und herzerwärmender Begegnungen.

Blog vom 24.12.2015 auf https://www.fischundfleisch.com/susanne-strobach/31-tage-glueck-alte-und-neue-rituale-14066